Kultursekretariat NRW Gütersloh

Schau!raum – Ein transkulturelles Diorama

Das #nrwzeigtkultur-Projekt in Hamm

Von Anke von Heyl

 

Plätze einnehmen geht im Digitalen etwas anders als im realen Theater, aber auch hier bemühe ich mich, pünktlich zu sein. Erstmal mit Passwort in den Schau!raum einloggen! Und dann erscheint auf dem Bildschirm eine Art Guckkasten, auf dessen hinterer Fläche in einzelnen Kacheln Menschen zu sehen sind. Ach ja. Das Publikum!!! Das Setting wird uns später als Diorama vorgestellt. Ich habe mir schnell noch einen Snack mit an den Rechner geholt und ein Kaltgetränk. Wie damals zu Shakespeares Zeiten, als man ins Theater auch Essen und Trinken mitgenommen hat. Das gefällt mir! Und auch, dass man als Publikum ins Geschehen eingebunden wird – zunächst einmal ganz simpel über die pure Wiedergabe am Rechner. Aber es wird noch spannender.

 

Vorab schonmal ein großes Lob für das Konzept des Treibkraft-Theaters: Regie von Philip Gregor Grüneberg, Web-Entwicklung / Videostreaming von Martin Wisniowski. So sieht eine echte Innovation aus. Ich ziehe auch den Hut vor der flexiblen Anpassung der Performance an die Corona-Bedingungen. Denn ursprünglich war das Format nicht digital geplant!

Bevor es losgeht, werden wir von einem Ensemble-Mitglied begrüßt und in das Setting eingeführt. Sie weist uns darauf hin, dass sich gleich 7-minütige Performer-Phasen mit 6-minütigen Interaktions-Phasen abwechseln und wir in letzteren mit verschiedenen Buttons die Möglichkeit erhalten, zu interagieren. Einmal können wir über den Button „Kübra Gümüşay“ ein Interview mit der Autorin anhören. Wir haben die Möglichkeit, bei „1 zu 1 über“ mit jeweils einer anderen Zuschauerin oder einem anderen Zuschauer zu telefonieren. Und wenn wir „1 zu 1 mit“ klicken, können wir mit dem jeweiligen Performer, der jeweiligen Performerin direkt chatten. Wer will, kann auch einen „Avatar“ ausprobieren, mit dem man hinter den Kulissen der Szene herumnavigieren kann.  Und es gibt den Überraschungs-Button „Tada!“! Doch davon später mehr.

Elif Okutan betritt die Bühne und nimmt uns gedanklich mit auf eine Reise in ihre Vergangenheit. Zu ihrem Geburtsort, zum Kindergarten, in den sie gegangen ist, und in den Garten ihres Onkels. Im Hintergrund hören wir Vogelzwitschern, wir erfahren von heiteren und unbeschwerten Stunden. Elif erzählt auch von einer Schulfreundin, zu der sie heute keinen Kontakt mehr hat. Am Ende fragt sie uns, ob wir wissen, um welche Stadt es sich bei ihren Schilderungen handelt. Istanbul, denke ich spontan. Und frage mich dann, warum ich das denke. Vielleicht weil in Elifs Schilderungen eine besondere Stimmung rüberkam, die ich als mediterran empfinde? Leider schaffe ich es nicht zum Chat mit ihr (er ist belegt) und werde es wohl nicht erfahren. Elifs Schilderung hat mich sehr berührt. Spannend, wie für eine kurze Zeit diese Nähe entstehen kann.

Da ich nicht chatte, habe ich „1 zu 1 mit“ gewählt und bin kurz mit Jakob (?) verbunden. Wir waren beide ein bisschen lost und es kam kein Gespräch zustande. Wahrscheinlich muss man diesen Wechsel vom rezipierenden Publikum zum aktiven Dialog noch einüben. Die Möglichkeit dazu finde ich wirklich großartig. Und eigentlich hätten wir uns ja prima darüber austauschen können, welche Stadt Elif nun wirklich beschrieben hat.

Weil mir noch ein bisschen Zeit bleibt, drücke ich beherzt auf den Tada!-Button und sehe plötzlich ganz klar alle anderen Zuschauer*innen. Welch eine Überraschung – auch eine Kollegin, mit der ich Stunden zuvor noch telefoniert hatte. Dann werden die Buttons inaktiv geschaltet und es geht im Schau!raum weiter.

Mit einer Performance, bei der eine junge Frau (Katharina Kühn) zunächst einmal spiegelverkehrt auf eine der durchsichtigen Wände des Schauraums schreibt: „Ich habe einen Traum“. Sie nimmt uns mit in diesen Traum, in dem sie sich zu sphärischen Klängen aus einem goldenen Schlauchgebilde zu befreien versucht. Während die Musik so herrlich im Kopf kitzelt, schaue ich fasziniert den Bewegungen der Performerin zu. Auch sie hätte ich gerne im Chat gesprochen, war aber wieder zu spät! Doch auf mich wartet ja noch das Interview mit Kübra Gümüşay und so wähle ich mich schnell dort ein.

„Sprache ist wie ein Ort“, erklärt die Autorin. Das Interview dreht sich um ihr Buch mit dem Titel „Sprache & Sein“,  in welchem sie den Einfluss der Sprache auf unser Denken beschreibt. Ihre Idee, Menschen in Benannte (weichen von der Norm ab) und Unbenannte (entsprechen der Norm und müssen daher nicht benannt werden) einzuteilen, ist ein interessanter Ansatz, der auch noch einmal eine andere Perspektive auf das Projekt „Schau!raum“ wirft.

Was es mit einem macht, wenn man eine Sprache hört, die man nicht versteht, kann ich beim nächsten Akt feststellen. Vor dem Diorama (oder Guckkasten) kniet ein Mann (Elham Eddin Alomar), der auf einem Hocker vor einem kleinen Tisch sitzt. Orientalisch anmutende Musik läuft im Hintergrund. Dann steht der Mann auf und man sieht, wie er etwas aussät, etwas baut. Anscheinend ist er an diesem Ort gerade heimisch und sesshaft geworden. Dann rezitiert er etwas und wirkt äußerst engagiert – ich würde jetzt gerne mehr verstehen. Trotzdem merke ich, dass die Stimmung kippt. Der Mann beginnt Manuskriptseiten auf dem Boden zu verteilen. Und dann wirkt es so, als würde er angegriffen und geschlagen. Plötzlich fällt mein Blick auf sein T-Shirt: Paradise Survey steht darauf. Das ist doch nicht zufällig ausgewählt, oder?

Aus verschiedenen Mosaiksteinen wird nun langsam ein Bild. Und bevor wir uns dem Finale nähern, wird mir bewusst, dass die Performance in einem Museum stattfindet. Dort werden die verschiedenen Perspektiven auf Themen wie Postkolonialisierung und Transkulturalität verhandelt. Und da macht die Idee des „Dioramas“ plötzlich noch eine weitere Perspektive auf. Denn in genau solchen Settings wurde ja in früheren Museumspräsentationen koloniales Denken festgeschrieben.

Am Schluss wird es recht pathetisch und zwei ganz Große werden bemüht. Der vitruvianische Mensch (Philip Gregor Grüneberg) von Leonardo da Vinci entsteht zu den Klängen von Beethovens „Freude schöner Götterfunken“! Und gerade als man sich vor so viel männlichem und westlichem Kanon verwundert die Augen reiben will, setzt Fatma Yavas ihren  wirklich beeindruckenden Schlussakkord.

„Wer in Deutschland Abitur macht, liest wahrscheinlich kein einziges Buch einer Frau“, schleudert sie nach ihrer revolutionären Plakataktion dem Publikum entgegen. „Hat Corona eigentlich etwas mit dem Koran zu tun?“ Provokant, feministisch, ungeheuer kraftvoll, wie sie sich da in die Bresche wirft. Gegen patriarchale Strukturen (ich sehe Leonardo und Beethoven verschämt von dannen huschen) und für die Freiheit!

Und so endet der Abend mit einer ganzen Menge an Denkanstößen, die sicher noch weiterwirken werden. Die erzeugten Bilder haben sich auf jeden Fall nachhaltig in mein Gedächtnis eingebrannt. Vor allem, als ganz zum Schluss noch der Schriftzug „Vaterland“ abgefallen ist! Ob das Zufall war?

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Weitere Informationen:

Berichterstattung des Treibkraft-Theaters

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